
Ein Beitrag von Chefarzt Dr. Arne Zastrow
Gemessen an der Häufigkeit der Medienpräsenz scheint die Internetabhängigkeit bzw. inernetbezogene Störungen heute das zu sein, was dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Neurasthenie war: ein vieldiskutiertes Phänomen, dessen Ursachen umstritten sind, das jedoch in seiner Vollausprägung eine behandlungsbedürftige Krankheit darstellt. Bedeutet es eine Medikalisierung eines gesellschaftlichen Problems, wenn die Internet Gaming Disorder, also die Sucht nach Online(rollen)spielen Eingang findet in die internationalen medizinischen Klassifikationssysteme und damit in das Gesundheitssystem? Zumindest eröffnet dies die Möglichkeit, Betroffenen qualifizierte Hilfe anzubieten, die oft genug bitter nötig ist.
Im Juni 2018 machte eine Presseerklärung der WHO die Runde, in der die Absicht bekundet wurde, die Internet Gaming Disorder in die – voraussichtlich 2020 in Kraft tretende – ICD-11, also das internationale Klassifikationssystem, aufzunehmen. Ein weiteres Manual, das DSM-5, enthält Forschungskriterien der Störung. Dabei fällt auf, dass beide Formulierungen auf definierende Zeitangaben verzichten. Die am PC, in sozialen Netzwerken oder beim Computerspiel verbrachte Zeit allein markiert nicht die Grenze zwischen selbstfürsorglicher Nutzung und Leidensdruck erzeugendem Krankheitsbild (sonst müsste jeder IT-Experte medienabhängig sein, der im Rahmen seiner Arbeit 8 Stunden täglich am PC verbringt). Laut DSM 5 sind es modifizierte, aus den substanzgebundenen Süchten bekannte Kriterien, die anzeigen, wer krank ist: Zum Beispiel die Eingenommenheit der Betroffenen durch das Medium, Toleranzentwicklung im Sinne längerer und häufigerer Spielphasen, Entzugssymptome bei Unterbrechung des angestammten Verhaltens, die Vernachlässigung realer Kontakte und früher ausgeübter Hobbies, die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit und die Inkaufnahme sozialer Konflikte und Nachteile zugunsten der PC-Nutzung. Die ICD-11 wird im Unterkapitel der nicht substanzgebundenen Verhaltenssüchte ebenfalls die Internet Gaming disorder aufnehmen und bei der Definition ebenfalls vor allem darauf abheben, dass das Verhalten trotz eingetretener negativer Konsequenzen wie Ausbildungs-/ Arbeitsplatz- oder Beziehungsverlust beibehalten wird. Wenn dies über einen Zeitraum von 12 Monaten beobachtbar ist, sind häufig Ausbilder, Lehrer oder Angehörige von Betroffenen alarmiert und suchen professionelle Hilfe.
Psychosoziale Beratungsstellen können dann ebenso Anlaufstellen sein wie Selbsthilfegruppen und Online-Ambulanzen, die sich dem Thema widmen und teilweise personalisierte Beratung und Diagnostik anbieten. Es liegt in der Natur der Sucht, dass Betroffene selbst oft deutlich später eine Notwendigkeit zur Verhaltensänderung erkennen.
Die Medienabhängigkeit hat viele Gesichter: sie kann in der übermäßigen Nutzung sozialer Medien, im Abtauchen in den virtuellen Welten von Rollenspielen, im permanenten Surfen, der Tätigung von Onlinekäufen oder auch dem unkontrollierten Besuch von Seiten sexualisierten inhalts bestehen. Das Onlinespiel kommt dabei unter männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen am häufigsten vor, ist sozial weniger kompatibel als exzessive social media-Nutzung und führt deshalb am häufigsten zu dem Wunsch, den Absprung aus der virtuellen Welt auch unter Nutzung eines stationären Klinikaufenthaltes zu schaffen.
Nach deutschen Repräsentativbefragungen der letzten Jahre liegt eine PC-Spiel-Abhängigkeit – online oder offline – in bis zu 7% der 12-25jährigen vor, wobei männliche Jugendliche und junge Erwachsene dominieren (Wartberg et al. 2017; basierend auf der IGDS). Es lassen sich Korrelationen mit Depressivität und Ängstlichkeit in dieser Stichprobe nachweisen. Dies könnte der klinischen Beobachtung entsprechen, dass das Spielverhalten nicht selten der Emotionsregulation, vor allem der Dämpfung unangenehmer Affekte, dient. Wird nach der Internetnutzung allgemein gefragt, finden sich unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen laut BzgA mehr Mädchen und Frauen, die entsprechend dem Cut-Off der compulsive internet use scale CIUS internet- oder computerspielbezogene Störungen aufweisen (7,1 % versus 4,5% der 12-17jährigen, gesamt 5,8%; 2,8% der 18-25 jährigen) (Orth 2017).
Neurobiologisch weist die Störung viele Parallelen zu anderen Verhaltenssüchten wie dem Glücksspiel auf. Veränderungen der Neurotransmitterbalance insbesondere im Belohnungssystem sowie dem der Handlungssteuerung dienenden präfrontalen Cortex korrelieren mit exzessiv wiederholten Handlungsabläufen und eingebrannten visuomotorischen Kopplungen (Fauth-Bühler et al.2017). Diese Befunde unterstreichen die Berechtigung, von einem behandlungsbedürftigen Störungsbild zu sprechen, auf einer biologischen Ebene.
Im Zweifel entscheidender ist jedoch der resultierende Leidensdruck, der sich mitteilt, wo es persönlich wird: Junge Menschen sind betroffen, häufig noch ohne abgeschlossene Berufsausbildung, denen eine berufliche und private Perspektive fehlt. Jugendliche, die ohne initialen Vorsatz in virtuelle Welten abdriften, weil sie dort ein alter Ego aufbauen, das eher ihren Wünschen entspricht als das Selbstbild in der Realität. Im Online-Rollenspiel scheint alles möglich, jeder/ jede kann sich „hochleveln“ durch Ausdauer, Geschicklichkeit, manchmal durch geldwerte Einkäufe. Vermeintlich ohne Ansehen der Person ist es möglich, Teil einer Mission zu werden, gemeinsam Siege zu erringen oder Niederlagen zu verkraften – stets mit der Möglichkeit des Ausstiegs, wenn der Verlauf schwer aushaltbar sein sollte. Die ubiquitäre Verfügbarkeit des world wide web wird vom Segen zum Fluch, aus der zukunftsweisenden Infrastruktur eine permanente Versuchungs- und Überforderungssituation. Zwar werden Kontakte geknüpft, doch sind diese unverbindlicher als in der realen Welt. Die Manipulierbarkeit bedient Omnipotenzphantasien, die gerade in selbstunsicheren und im realen Leben gehemmt auftretenden Menschen schlummern (Vierhaus et al. 2012). Die technischen Möglichkeiten instantaner ortsunabhängiger Rückmeldung treffen auf Individuen mit allzu menschlichen Bedürfnissen nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Beschäftigung und Ablenkung.
Die Kraichtal-Kliniken haben mit dem Kompetenzzentrum für Psychosomatik und Verhaltenssüchte im April 2018 eine Abteilung eröffnet, die sich auf die Behandlung insbesondere von glücksspielsüchtigen und medienabhängigen Patientinnen und Patienten spezialisiert. Therapeutisch ist es von essenzieller Bedeutung, den hinter angestammten – und oftmals verselbständigten – Verhaltens- und Einstellungsweisen liegenden Bedürfnissen nachzuspüren und diesen Geltung zu verschaffen. Die vergleichende Bewusstmachung von virtuellem und realem Selbst stellt hierzu einen wichtigen Schritt dar. Sie wird angeleitet durch Narrative, in denen kontrastierende Persönlichkeiten vorkommen und die dadurch zur Selbstreflexion anregen. Selbstwertthemen stellen sich häufig als zentral heraus. Die Behandlung in der Gruppe ermöglicht korrigierende Rückmeldungen durch andere Betroffene und die Erarbeitung eines realistischen Selbstbildes. Ziel ist, erfahrbar zu machen, dass man kein unverwundbarer und mit Superkräften ausgestatteter Avatar sein muss, um vor anderen und im Leben zu bestehen. Die Wahrnehmung für die reale Umwelt und den eigenen Körper zu schulen, ist als Rückfallprophylaxe erprobt und für diese Patienten besonders wichtig. Körperwahrnehmung und achtsamkeitsbasierte Übungen haben daher einen festen Platz im Therapieplan. Sozialarbeiterische Beratung kann bei der Berufsfindung oder dem Wiedereinstieg in den Job helfen, nicht selten sind aufgelaufene Schulden zu regulieren und die Wohnsituation zu klären. Ein strukturierter Tagesablauf (regelmäßige Mahlzeiten, morgendliche Aktivierung, Nachtruhe) und gesunde Ernährung (Nutzung der Lehrküche) stellen Basisbausteine einer selbstfürsorglichen Alltagsgestaltung dar. Während der Therapiezeiten müssen Handys abgegeben werden, die Form der Internetnutzung wird gemäß eines Ampelschemas individuell in unbedenkliche Aktivitäten (grün, z.B. Nutzung eines Kalkulationsprogrammes, Online-Banking), potenziell gefährdende Nutzung (gelb, z.B. Zeitbegrenztes Surfen) und problematische Aktivität (rot, z.B. Anlegen eines Accounts für ein Online-Rollenspiel) eingeteilt und gegen Ende der Therapie schrittweise, z.B. im Rahmen von Belastungserprobungen im häuslichen Umfeld, erprobt. Nur eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Angehörigen des Patienten und Nachbehandlern (z.B. Beratungsstelle, Selbsthilfegruppe, Facharzt, Psychotherapeut) schon während der stationären Behandlung kann die Rückfallgefahr reduzieren.
Gerade, wenn man Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionalität und der Teilhabe zum Maßstab nimmt, gibt es mehr als einen guten Grund, Medienabhängigen „abschalten statt abdriften“ zu ermöglichen.
Etwa ein Drittel aller Patienten leiden zusätzlich an körperlichen) Begleiterkrankungen (v.a. Übergewicht, muskuloskelettale Beschwerden) oder substanzgebundener Abhängigkeit (Nikotin, THC, Amphetamine(PAGE-Abschlussbericht Meyer et al. 2011)) – eine Tatsache, die die Notwendigkeit der ärztlichen Versorgung unterstreicht.
In einer Zeit, in der aus dem Druck zur Selbstvermarktung „das erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg, A. 2004) resultiert, erscheint dieses in seiner Vulnerabilität zunehmend gefährdet. Das Internet überwindet zeitliche und räumliche Grenzen, verschiebt jedoch auch die Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen Situationen, in denen ich mich unbeobachtet fühlen darf und solchen, in denen ich mich der Wahrnehmung anderer ausgesetzt weiß. Die permanent gegebene Möglichkeit einer bewertenden Rückmeldung – seien es „Likes“ oder ein Shitstorm – erzeugt Druck und destabilisiert das Selbstvertrauen derer, die ohnehin stark an sich zweifeln (Clerkin et al. 2013). Scham entsteht, wenn meine Unzulänglichkeiten und Verfehlungen durch andere bemerkt werden – und sei dies auch nur möglich oder meiner Vorstellung entspringend. Dementsprechend ist das dem bewertenden Blick anderer Ausgesetztsein im Internet mit der Gefahr einer Verstärkung von Schamgefühlen verbunden. Umgekehrt verleitet die vermeintliche Anonymität der sich äußernden User oder Player zu schamlosen, drastischen, mitunter verletzenden Formulierungen. Hieraus entsteht schnell ein Teufelskreis, der bei unzureichenden anderen Bewältigungsmechanismen zu weiterer Ablenkung mittels Onlinenutzung führt. Visuelle Reize drängen Selbstzweifel, Ärger und auch Schuldgefühle in den Hintergrund. Sie lösen allerdings zugrundeliegende Konflikte nicht, die sich verstärkt bemerkbar machen, sobald die äußere Ablenkung ausbleibt.
Landesweite Erhebungen aus den USA zeigen über 15 Jahre stabil, dass die Zeit, die Jugendliche vor Bildschirmen (Smartphone, PC, Fernsehen) verbringen, invers korreliert mit psychischem Wohlbefinden. Anders ausgedrückt: je weniger Zeit vor dem Bildschirm und je mehr Zeit mit anderen Aktivitäten verbracht wurde, desto höher die Zufriedenheit der jungen Menschen (Twenge et al. 2018). Dieser statistische Zusammenhang beweist noch keine Kausalität, ist aber bemerkenswert und sollte uns anspornen, den Nachwuchs für befriedigende Aktivitäten in der realen Welt zu begeistern. Das muss die Nutzung von Technik nicht ausschließen: Geo-Caching. ist ein gutes Beispiel dafür, wie GPS und Smartphone genutzt werden können, um Interesse an der Umwelt, an Örtlichkeiten und geschichtlichen Zusammenhängen zu wecken. Die Methode des Biofeedback, die wir ebenfalls unseren Patienten anbieten, nutzt Sensoren, um psychophysiologisches Wissen für den Einzelnen erfahrbar zu machen und wäre ohne miniaturisierte Prozessoren, die in tragbaren Geräten wie Pulsmessern oder Smartwatches verbaut werden, nicht denkbar.
Nicht die technischen Möglichkeiten an sich sind schädlich, sondern deren einseitige und exzessive Nutzung. Daher setzt eine sinnvolle Prävention bereits früh an, um Medienkompetenz zu schulen. Die Ausbildung von Medienscouts als Multiplikatoren, die Berücksichtigung entsprechender Themen in Rahmenplänen und Online-Hilfsangebote sind allesamt sinnvoll. Sie entheben jedoch niemanden von der Verantwortung, in Familie und Freundeskreis wohlwollend- interessiert bezogen zu bleiben, um rechtzeitig zu erkennen, wann der Leidensdruck beginnt, wann die mediale Nutzung eine Ersatzbefriedigung darstellt. Ein Gegensteuern kann nur innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung gelingen. Diese herzustellen und zu erhalten auch zwischen Generationen, in denen digital-naive Eltern auf digital-native Söhne und Töchter treffen, ist nicht immer leicht, aber sehr lohnend.
Literatur
- Clerkin, E.M., Smith, A.L:, Hames ,J.L. (2013): The interpersonal effects of facebook reassurance seeking.
- J Affect Dis 151 (2), 525-30.
- Ehrenberg, A.(2015): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, Frankfurt a. Main
- Fauth-Bühler, M, Mann, K., Potenza, M.N. (2017): Pathological gambling: A review of the neurobiological evidence for its classification as an addicitve disorder. Addict Biol 22(4), 885-897.
- Orth, B.(2016): Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2015.
- Teilband Computerspiele und Internet. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.
- Vierhaus, M. et al. (2012): Zur Validität des Modells zur psychischen Vulnerabilität der Glücksspielsucht. Sucht, 53 (3), 183-193.
- Wartberg, L.; Kriston, L.; Thomasius, R. (2017): The prevalence and psychosocial correlates of Internet gaming disorder—analysis in a nationally representative sample of 12- to 25-year-olds
- Dtsch Ärztebl Int 2017; 114(25): 419-24.
- Twenge, J.M., Martin, G.N., Campbel,l W.K. (2018): Decreases in psychological well-being among American adolescents after 2012 and links to screen time during the rise of smartphone technology. Emotion 2018 Sep;18(6):765-780.
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